„Tausend Millionen Erinnerungen“

Autor Zoran Drvenkar über Erinnerungen, Krieg und Heldentum – Teil 1 eines Gesprächs mit dem Dramaturgen Tobias Diekmann

GRIPS-Dramaturg Tobias Diekmann hat Zoran Drvenkar für unseren Blog ausführlich zu seinem Stück KAI ZIEHT IN DEN KRIEG UND KOMMT MIT OPA ZURÜCK befragt. Heute im ersten Teil geht es allgemeiner um die Themen im Stück, im zweiten Teil des Gesprächs, das wir in einer Woche – nach der Premiere des Mitschnitts -veröffentlichen werden, verrät Zoran Drvenkar konkret und sehr persönlich am Beispiel von „Kai“ und „Opa“, wie sich bei ihm beim Schreiben die Geschichten und Figuren entwickeln.

GRIPS: In dem Text „Unser Vergessen, unsere Identität“ schreibt Jasmin Alley:  „Es gibt Erinnerungen, die besonders bedeutsam für unsere Persönlichkeit sind. Es sind die Erinnerungen, die wir mit unserem eigenen Leben verbinden.“ Welche Erinnerungen sind das bei dir? 

Zoran Drvenkar: Alle meine Erinnerung sind skurril und sehen ein wenig so aus – ein Umzugskarton voller Bücher, der am Straßenrand steht, und den ich mir schnappe und vier Stockwerke hochschleife; Martinas weiche Lippen, die ich mit elf Jahren küsse und die eine ewige Sehnsucht öffnen; der Duft von Staub an einem Sommertag, wenn wir Jungs den Ball herumdroschen, während die Mädchen zuschauten und sich langweilten; das Licht am Morgen, wenn die Welt elendig war, weil ich zur Schule musste; einfach nur dasitzen und Comics lesen; hinter einem Sessel stehen, dessen Lehne auf einmal ein Keyboard ist, während Blondie aus den Boxen dudelt und wir die beste Playbackband aller Zeiten sind; Nasenbluten und Schokopudding; einfach nur dasitzen und John Sinclair lesen; auf die U-Bahn warten; wie eine Rakete über den Rasen rennen, während Adrian aus dem Hintergrund den Moderator spielt und ich ein Fußballstar bin, der in wenigen Sekunden die WM entscheiden wird; Tränen und die pure Verzweiflung, allen Anforderungen der Schule, der Welt, des Lebens nicht gerecht werden zu können; mich in den Augen meiner Freunde sehen und selber nicht wissen, wer ich bin. Und tausend Millionen mehr Erinnerungen.

GRIPS: Welche Bilder hat Kai über den Krieg? Welche Bilder hast du zum Krieg?

Zoran Drvenkar: Außer dem üblichen Elend, außer all dem, was jeder denkt, denke ich nicht an den Krieg. Ich will ihn nicht in Büchern, die ich lese, oder in Filmen, die ich sehe, und auch nicht in Gesprächen auspacken. Ich bin alt genug, dass alles etliche Male durchgemacht zu haben. Die Kindheit und Jugend waren davon geprägt. Mich interessiert nicht die Historie. Warum dieser Panzer da lang fuhr oder dieser General an jenem Morgen Verstopfungen hatte. Ich kann mit Fakten und Daten wenig anfangen, also habe ich mir einen Überblick verschafft und das ganze Elend von oben betrachtet. Wenn man das lange genug macht, kann man eigentlich nur aufgeben. Aber das kommt natürlich nicht in Frage, niemand sollte wegen den Fehlern anderer einknicken. Deswegen helfen mir keine historischen Fakten. Was falsch ist, ist falsch. Sicher ist es wichtig, von der Vergangenheit zu lernen, aber nicht Tag für Tag für Tag für Tag. Ich weiß, was ich über Krieg und Gewalt denke. Ich weiß auch, wenn ich mich darauf einlasse, werde ich machtlos und verloren sein, und drehe wahrscheinlich ein wenig durch. Wissen ist gut, Handeln ist besser, aber eine Welt wie unsere verlangt nicht, den Weg zu gehen, den alle gehen. Es ist wichtig seinen eigenen Weg für dieses Handeln zu suchen und zu finden. Ich renne auf keine Straße und demonstriere; ich versuche meine eigene Balance zu halten und Gutes zu tun, wo ich Gutes tun kann. Ich halte Abstand zu all dem, was zu dem Falschen führt, und versuche auf meine Art dazu beizutragen, aus dieser Welt einen besseren Ort zu machen. Keine Gier, kein Neid, kein Hass. 

GRIPS: Was macht ein Held für dich aus?

Zoran Drvenkar: Er ist. Er kann nichts anders. Er will nicht anders. „Frankie“ aus „Magdeburg hieß früher Madagaskar“ ist auch so ein Held. Geboren, um das zu sein, was kein anderer sein kann – er selbst. Und so sehe ich auch meinen Kai. Er wird zu Opas Gedächtnis, weil es der einzige Weg ist, seinen Opa zu retten. Er wird ungewollt zum Helden und das sind ja wohl die besten Helden, die man sich denken kann. 

GRIPS: Welche Erinnerungen hast du an deine Großeltern? Waren sie Helden für dich?

Leider keine. Sie starben recht früh und hatten keine Chance für Zoran Helden zu sein.

Zoran Drvenkar wurde 1967 in Kroatien geboren und zog als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Berlin. Seit 1989 arbeitet er als freier Schriftsteller, er schreibt Romane, Gedichte, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Im Jahr 2002 legte er sich das Pseudonym von zwei kanadischen Schriftstellern zu (Victor Caspak & Yves Lanois) und veröffentlichte unter ihrem Namen den ersten Band der „Kurzhosengang“, der 2005 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Für sein Jugendstück „Traumpaar“ (UA: Theater an der Parkaue) wurde ihm 2004 der Baden-Württembergische Jugendtheaterpreis verliehen. Sein Kinderstück „Magdeburg hieß früher Madagaskar“ (UA: Grips Theater Berlin) wurde von Deutschlandradio Kultur als Hörspiel produziert und 2015 mit dem Deutschen Kinderhörspielpreis ausgezeichnet. Das Kindertheaterstück „Du hast doch keine Angst, oder?“ basiert auf dem ebenfalls preisgekrönten Bilderbuch „Zarah“ (illustriert von Martin Baltscheit). Es macht dem Vielleser und Cineasten Spaß, die Genres zu variieren, vom Jugendbuch zum Thriller, Science-Fiction oder Kriminalroman, Literatur sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene zu schreiben. Zoran Drvenkar lehnt selbst eine „Schubladisierung“ in Lesealter eher ab. Er schreibe nur für Leser und nicht für zu pädagogisierende Jugendliche. Dies mag wohl auch der Grund gewesen sein, dass ihm die Kritik häufig bescheinigte, „einen neuen Ton“ gefunden zu haben.Der Autor lebt heute in der Nähe von Berlin in einer ehemaligen Kornmühle. (Foto: © Corinna Bernburg)

Am 13.3. veröffentlichen wir Teil 2 des Gesprächs mit Zoran Drvenkar