Das Spielzeitinterview mit GRIPS-Leiter Philipp Harpain
Vier Uraufführungen sind in dieser Spielzeit geplant, was alle eint: Das GRIPS schreckt nicht vor heftigen Themen im Kinder- und Jugendtheater zurück. Warum das so ist, um was es konkret geht, welche Künstler*innen neu am Haus arbeiten werden, aber auch über die Aufgaben, die er sich noch für die kommenden Spielzeiten unter seiner Leitung vorgenommen hat, darüber haben wir mit GRIPS-Leiter Philipp Harpain zu Beginn der Spielzeit 2023|24 gesprochen.
GRIPS: Nach der Spielzeitvorschau im Mai titelte die Presse: „Ohne Scheu vor brisanten Themen“ – könnte das die Überschrift für die Spielzeit 2023/24 sein? Und wie finden die Themen und die Stücke ihren Weg ins GRIPS?
Philipp Harpain: „Ohne Scheu vor brisanten Themen“ beschreibt die DNA des GRIPS Theaters. Ich selbst hatte aber auch noch nie Scheu vor brisanten Themen, im Gegenteil.
Aber klar, alle vier Premieren greifen durchaus heftige Themen auf, aber es ist ja nicht so, dass schwerwiegende Themen vor Kindern und Jugendlichen Halt machen. Umso wichtiger ist es, dass wir als Theater einen Raum schaffen für das Mitfühlen und Fragen. Wir können mit unseren Mitteln Antworten geben und Wege aufzuzeigen. Und wenn uns das gelingt, können wir unserem Publikum sehr viel mitgeben.
Es ist oft das Publikum, das uns in den Gesprächen, bei unseren Schulbesuchen und im Kontakt mit unseren Partnerorganisation auf Themen bringt oder sogar einfordert. Beispielsweise die Vereinsamung der Jugendliche während der Coronazeit durch das Abtauchen in die digitalen Welten, wurde uns sehr als Thema angetragen.
GRIPS: Schon die erste Premiere der Spielzeit, das Kinderstück „Irgendwo da oben“ von Kaya Tina Büttner, nimmt sich sehr unerschrocken des Themas „Tod“ an, worum geht es genau?
Philipp Harpain: Generell fragen schon die Fünf- und Sechsjährigen nach dem Tod, was das ist, was das bedeutet. Deswegen ist es auch wichtig, ein Stück dazu zu haben. Ein Stück, das davon erzählt, was passiert, wenn der Tod als Schicksalsschlag in das Leben eines Kindes kracht. Die Autorin Kaya Tina Büttner erzählt die Geschichte der achtjährigen Yuna, die sich nach dem Tod ihrer Mutter in ihre eigene Welt zurückzieht. Einzig der unerschrockene Max schafft es, bei ihr durchzudringen. Das Stück erzählt viel über ihre Trauerarbeit, was dieser für sie plötzliche Tod mit ihr macht, was dieses Mädchen ganz dringend braucht, aber auch, was sie nicht braucht. Am 16. November ist die Uraufführung von „Irgendwo da oben“.
Weil du mich fragst, wie die Themen und Stücke zu uns kommen: So ganz dem Zufall überlassen wir das nicht, wir kümmern uns ja sehr aktiv und intensiv um den schreibenden Nachwuchs für das Kinder- und Jugendtheater. Neben dem Berliner Kindertheaterpreis, den wir seit 18 Jahren mit der GASAG ausloben, haben wir auch seit 2016 eine Kooperation mit der Akademie für Kindermedien in Erfurt. Seit sechs Jahren geben wir hier regelmäßig Workshops und loben seitdem einen Förderpreis aus. So sind wir zu Kaya Tina Büttner und ihrem Stück „Irgendwo da oben gekommen“, sie hat 2020 unseren Förderpreis beim „Golden Spatz“ erhalten.
GRIPS: Was zeichnet deiner Meinung die Regisseurin Petra Schönwald aus, die IRGENDWO DA OBEN inszenieren wird?
Philipp Harpain: Petra Schönwald geht tief in die Themen rein, setzt sich sehr intensiv inhaltlich auseinander, entwickelt in sich stimmige Regiekonzepte. Und gleichzeitig gibt sie in einem nächsten Schritt den Schauspielenden sehr viel freien Raum, damit diese sich mit ihren Erfahrungen und Können einbringen können, was diese schätzen und auch brauchen. Das finde ich gerade bei diesem Thema sehr wichtig, dass das ein gemeinschaftliches Erarbeiten wird, um auch Bilder jenseits der Sprache zu finden.
GRIPS: Am 25. Januar kommt das Stück „Princess“ von Karsten Dahlem zur Uraufführung, worum geht es und wie kam es zu dieser Produktion?
Philipp Harpain: Wir kriegen auch Vorschläge von Verlagen, Autor*innen und Künstler*innen, mit denen wir zusammenarbeiten. Konkret war das in dem Fall Karsten Dahlem, Autor von „Das schönste Mädchen der Welt“, der uns anbot, seinen mehrfach ausgezeichneten Kurzfilm „Princess“ für die Bühne umzuschreiben. Die Grundidee des Stoffes wiederum hat Karsten selbst in Elterngesprächen und in der Schule seiner Söhne mitbekommen, als ihn ein Vater verzweifelt davon erzählte, dass sein Sohn so gerne Mädchenkleider trägt. Wobei Karsten erstmal weniger der Sohn, sondern vielmehr die Verzweiflung des Vaters interessierte. In „Princess“ geht es also um Ole, dem elfjährigen Boss einer Jungs-Gang, der es heimlich liebt, in seinem Prinzessinnenkleid zu tanzen und sich zu schminken. Die Auflösung dieser Geschichte verrate ich hier nicht, der Plot ist einfach zu gut und zu raffiniert.
Karsten Dahlem ist ein toller Autor, Filmemacher, Schauspieler und Regisseur, er passt einfach sehr gut zu uns, unser Austausch ist geprägt von einem wohlwollenden Hinterfragen, auch Karsten will Themen tief durchdringen, aber immer mit viel Humor und Menschenfreundlichkeit.
GRIPS: Um Geschlechterrollen und Identitäten geht es auch in der dritten Produktion dieser Spielzeit, vielmehr um die Wege und Irrwege, die die digitalen Welten bei der Identitätsfindung von Jugendlichen bereithalten, Stichwort „Toxische Männlichkeit“. UPLOAD VIRGIN ist ein Jugendstück, das GRIPS-Schauspieler Marcel Herrnsdorf gemeinsam mit der Regisseurin Jacqueline Reddington entwickelt und vorgeschlagen hat.
Philipp Harpain: Ja, auch so kommen Stücke und Themen zu uns, Marcels mit Jacqueline Reddington während des Lockdowns entwickelte Konzept war einfach überzeugend. Beide haben damals den Fluch und Segen der digitalen Kommunikation und virtuellen Selbstdarstellung aufgenommen, auf die die Jugendlichen damals zurückgeworfen waren. Gerade ist eine Studie erschienen, dass Jugendliche im Schnitt 63,7 Stunden pro Woche im Internet unterwegs sind, trotz der realen Möglichkeiten des Miteinanders, die wir ja nach Corona wieder haben. Genau hier wird das Stück angesiedelt sein. Mit Jacqueline Reddington haben wir eine Regisseurin, die sehr versiert darin ist, die digitale Welt im Theater aufzunehmen. Unter ihrer Anleitung entwickelt das Ensemble das Stück über Online-Kultur, toxische Maskulinität sowie der Suche nach dem richtigen Platz inmitten der ersten großen Liebe.
GRIPS: Im Juni 2024 wird ein gemeinsam entwickeltes Kinderstück von GRIPS und THIKWA mit dem Arbeitstitel „Zusammenspiel“ uraufgeführt werden, kannst du dazu schon was erzählen?
Philipp Harpain: Dazu muss man wissen, wir sind mit THIKWA zusammen eines von sieben ausgewählten Theatertandems im Rahmen des auf drei Jahre angelegten „pik“-Programms des Bundeskulturstiftung. Wir wissen noch nicht genau, welches Stück bei dem „pik“-Projekt, mit THIKWA herauskommen wird, einzig sicher ist: THIKWA möchte von uns lernen, was man bei der Entwicklung eines Kinderstücks wissen und beachten muss, wir möchten lernen, wie Inklusion im künstlerischen Prozess und Betrieb funktioniert.
Und das Stück wird um das Thema „Macht“ kreisen, also wer bestimmt was über wen, ob bei Kindern oder bei Menschen mit Behinderung. Wer ermächtigt wen für was? Wer war wichtig, beim Sprechenlernen, wer hat wie geholfen? Wer hilft beim Ermächtigen, beim Klarkommen, was ist Qualität, was nicht? Wenn jemand nicht Deutsch sprechen kann, aber dennoch fünf Sprachen beherrscht, was ist dann Qualität, wer bestimmt da was? Sicher ist auch, dass das Stück sehr musikalisch wird, das ist GRIPS sowieso, das hat sich aber auch THIKWA gewünscht.
GRIPS: Und du hast noch eine Zugabe?
Philipp Harpain: Ja, genau, am 2. Dezember feiern wir die 2.000. Aufführung von LINIE von Volker Ludwig am GRIPS Theater! Und unser Schauspieler Dietrich Lehmann hat alle 2.000 Vorstellungen gespielt, sowohl in der Inszenierung von Wolfgang Kolneder als auch in der jetzigen, ebenso erfolgreichen Neuinszenierung von Tim Egloff. UND: Dietrich Lehmann feiert auch noch in diesem Jahr sein 50-jähriges GRIPS-Jubiläum. Für uns auf jeden Fall ein Anlass diese Stück Berlin am Hansaplatz im Dezember zu feiern.
GRIPS: Anfang Mai 2023 hast du bekannt gegeben, dass du nach den kommenden zwei Spielzeiten die Theaterleitung abgibst. Was hast du dir für diese Zeit noch vorgenommen?
Philipp Harpain: Ich habe noch drei mir wichtige thematische Felder für die nächsten zwei Jahre als Schwerpunkte gesetzt: Inklusion, Partizipation und Kinderrechte.
Für das Thema Inklusion wurden wir, wie oben schon erwähnt, als eines von sieben Kooperationen bundesweit für das Programm „PIK – Programm für inklusive Kunstpraxis““ von der Kulturstiftung des Bundes ausgewählt. THIKWA hat sich uns als Partner für dieses auf drei Jahre angelegte Projekt gewünscht, was ganz wunderbar ist, da unsere Häuser so gut zusammenpassen.
In dem Projekt, das wir „Zusammenspiel“ nennen, geht es nicht nur um die künstlerische Entwicklung eines gemeinsamen Stücks, sondern wir finden uns in diesen drei Jahren in verschiedenen Schritten und Modulen zusammen, lernen uns und alle unsere Abteilungen kennen, gehen aufeinander und die gegenseitigen Besonderheiten ein. Wir nehmen also auch alle Abteilungen mit, weil es darum geht, zu prüfen, wie wir inklusiver werden können. Inklusion fängt ja oft einfach mit dem Mitdenken an, beispielsweise, was man bei der Entwicklung von Kostümen beachten muss, dass ein schneller Umzug klappt.
Ergänzend zu diesem großen Projekt werden wir auch die Rezeption unseres Repertoires inklusiver gestalten, so wird es ab Herbst für AB HEUTE HEISST DU SARA eine Audiodeskription geben. Und unser Kinderclub und der Jugendklub BANDA AGITA arbeiten inklusiv, der Kinderclub wird auch das gemeinsame Projekt mit THIKWA begleiten, so schließt sich der Kreis.
Ich bin seit 23 Jahren am GRIPS, schon immer standen im Mittelpunkt meiner Arbeit die Umsetzung der UN-Kinderrechte, so habe ich mich darum gekümmert, dass das GRIPS als erstes Theater im Netzwerk für Kinderrechte, der National Coalition, aufgenommen wurde. Diese Spielzeit ist die National Coalition unsere NGO der Spielzeit. Das Thema Kinderrechte zog sich durch alle von mir verantworteten Spielzeiten und spiegelte sich sowohl in den Stücken als auch in den diversen Beteiligungsprojekten.
Eine Weiterentwicklung erfährt das Thema nun in dem auf zwei Jahre Partipationsprojekt für Kinder mit dem Titel „PROPS gehen raus…!“ in Kooperation mit den GRIPS Werken e.V., eine logische Fortführung unserer ganzen Beteiligungsprojekte von Kindern bei uns am Haus, angefangen von den Kinderkongressen bis hin zu den Kinderbeiräten der letzten Jahre, die uns beraten haben.
Wenn man Beteiligung von Kindern unterstützen möchte, ist es wichtig, dass man Kindern auch die Mittel gibt, die man für Theater braucht, ohne ein gewisses Handwerk geht das nicht. Das machen wir in den zwei Jahren und fragen dann beispielsweise: Wie würdet ihr denn Regie machen? Wie würdet ihr ein Stück schreiben? Welche Kostüme fändet ihr passen? Das erzählt ganz viel über Kinder, auf ihre Wahrnehmung auf die Welt, das ist der Mehrwert für unser Haus, wenn wir Kinder noch mehr in unsere Arbeitsprozesse und auch Abteilungen einsteigen lassen.
Sehr wichtig ist mir auch noch, dass das GRIPS finanziell gut und möglichst besser in den nächsten Jahren aufgestellt wird. Andreas Joppich und ich haben seit 2016 viel erreicht, aber aufgrund von Inflation und Lohnentwicklungen reicht das Geld noch immer nicht. Um weiterhin Kinder- und Jugendtheater mit unserem gewohnt hohen GRIPS-Anspruch für die Berliner Kinder- und Jugendliche machen zu können, muss man auch die Menschen gut bezahlen. Da gibt es noch einiges für mich und Andreas Joppich, unserem Geschäftsführer, in den kommenden zwei Jahren zu tun.
Die Fragen stellte Anja Kraus (Öffentlichkeitsarbeit im GRIPS)