Von der Heilkraft des Theaters und der Musik

Volker Ludwig im Gespräch

Da denkt man, dass einer der besten Autoren für das Kindertheater ständig Kinderstücke schreiben würde. Aber bevor 2011 SCHNUBBEL zur Uraufführung kam, hatte sich Volker Ludwig ganze 11 Jahre Zeit dafür gelassen! Warum das so war, wie er überhaupt zu Stoffen kommt, welche Beobachtungen er in Berliner Grundschulen gemacht hat, worin für ihn die Kraft des Theaters liegt, wie man es schafft, über die Jahrzehnte sich seine Leidenschaft für das Kindertheater zu bewahren. Und was er Kindern so wünscht. Das haben wir Volker Ludwig kurz vor der Uraufführung von SCHNUBBEL 2011 gefragt.

GRIPS:       Wieso hast du dir so lange Zeit gelassen? Man denkt ja, du als der berühmteste Autor für Kinderstücke schreibst ständig Stücke für kleine Kinder …

VL:             Das denkt man ja nur, dass ich nur ständig Kinderstücke schreibe (lacht). Ich komme ja vom politischen Kabarett her, wo Ironie eine große Rolle spielt, was mich sehr reizt, was aber im Kindertheater nicht geht. Ich habe einfach unterschiedliche Interessen und habe in den letzten Jahren auch mal andere Lüste bedient (lacht), zum Bespiel für Erwachsene zu schreiben. Neben den großen Produktionen SCHÖNE NEUE WELT und LINIE 2, habe ich auch mit ROSA ein Stück über Rosa Luxemburg geschrieben und mit BADEN GEHN ein gesellschaftskritisches Stück über das gegenwärtige Berlin, das hat mich alles sehr gereizt. Vor zwei Jahren dann mit PÜNKTCHEN TRIFFT ANTON ein Stück für Menschen ab 9, also war ein Stück für die ganz Kleinen mal wieder fällig.

GRIPS:       Ist es denn schwerer, für kleine Kinder zu schreiben, oder ist es einfach nur anders?

VL:             Es ist schwerer, denn es ist wirklich schwierig, an kleine Kinder ranzukommen, deswegen gibt es ja auch so wenig gute Kinderstücke. Ältere Kinder kann man ja einfach ausfragen, da kriegt man genügend Auskünfte, um sicher zu gehen, was man schreibt. Bei jüngeren muss man das eher ertasten. Wir fragen auch im Nachhinein, wenn wir etwas über eine Vorstellung wissen wollen, zwei, drei Tage später eher die Erzieher oder Lehrer, was bei den Kindern so hängen geblieben ist, als die Kinder direkt. Das ist wirklich schwierig, bis in die Sprache hinein. Nur zu leicht legt man in die Frage schon die gewünschte Antwort hinein.

GRIPS:       Und wie kommst du auf die Ideen für neue Kinderstücke?

VL              Es ist immer gleich, bevor ich ein Stück anfange, das war auch bei BELLA, BOSS UND BULLI so, da bin ich einfach herumgelaufen und habe heraus zu kriegen versucht, welche Probleme immer wieder vorkommen, welche gerade brisant sind. Bei BELLA, BOSS UND BULLI waren das immer wieder die Probleme, die Einzelkinder haben. Oder beispielsweise, wenn Kinder zu einer anderen Mutter gehen und beschließen, dass die jetzt ihre Mutter sein soll, dann hat das ja was zu sagen. Auch der Gap zwischen Arm und Reich, das ist mir damals alles begegnet und das habe ich dann alles zusammengebunden zu einem Stück. Jetzt war es ein ähnliches Vorgehen: Ich habe immer wieder gehört von dem Thema Mobbing in Grundschulen, obwohl wir ja auch dazu schon Stücke geschrieben haben. Also, dass schon in den JüL-Klassen, also 1.  bis 3. Klasse, gemobbt wird. Also die Kinder nicht nur von Älteren abgezogen, sondern von Gleichaltrigen gemobbt werden. Und ich habe auch oft gehört von den Problemen, die dicke Kinder haben. Jedenfalls habe ich wieder ein paar Themen, die mir wichtig erschienen, gesammelt und zusammengebracht zu einer Geschichte.

GRIPS:       Kann man sich das so vorstellen, dass du mit offenen Sinnen und Verstand durch die Gegend oder Schulen läufst?

VL              Ja, ich horche so bei Verwandten, Bekannten, Freunden und Leuten, die Kinder haben. Und ich bin auch in Schulen gegangen. Habe mich da in eine JüL-Klasse so lange gesetzt, bis die mich vergessen haben, und habe meine Beobachtungen gemacht. Da ist sehr schön, man bekommt auch oft ein Bestätigung für das, was man sich ausgedacht hat, und sieht dann auch die Figuren wieder, an die man gedacht hat. Das ist ganz gut, da kann man auch noch viel korrigieren.

GRIPS        Im Mittelpunkt des Stücks steht zwar Tim, auch „Schnubbel“ genannt, aber du gibst auch den drei Kindern, die ihn mobben, im Lauf der Geschichte viel Raum, zeigst, dass auch die ziemliche Probleme mit sich herumschleppen. Wie würdest du die Figuren Samira, Boris und Leila beschreiben, worunter leiden denn die drei, so unterschiedlich alle Elternhäuser sind?

VL              Das ist ja immer so, wenn einer gemobbt wird, dann haben ja die, die mobben, oft die größeren psychischen Defizite, sonst würden sie das nicht machen. Das hat mich mindestens genauso interessiert und ich versuchte, denen auf die Spur zu kommen, warum die so sind. Man wird sehen, dass die eher noch größere Probleme haben als der Gemobbte selbst. Das hat mich interessiert und gereizt, und das trägt auch zur Lösung bei.

GRIPS        Welches Problem hat beispielsweise Leila, die ja im Gegensatz zu „Schnubbel“, der mit seiner Mutter allein ist und unter dem Alleinsein leidet, eine riesige Familie hat. Könnte man da nicht denken, da ist alles gut?

VL              Sie lebt tatsächlich in einer Großfamilie, die sie ja auch entsprechend überall anpreist, weil sie sich damit auch stark fühlen will. Die Nachteile, die aber auch diese große Familie hat, dass beispielsweise das Beschützen auch ein ständiges Aufpassen sein kann, die verdrängt Leila, die will sie nicht wahrhaben. Die leidet auch darunter, dass sie vor lauter Großfamilie selbst keinerlei Beachtung findet – wie die anderen vier zum Teil auch. Auch dass sie kein allzu persönliches Verhältnis zu ihren Eltern hat.

GRIPS:       Und Bodo ist genau das Gegenteil, oder?

VL              Genau, die Eltern fokussieren sich ganz auf Bodo und erwarten unheimlich viel von ihm und machen aus ihm einen Typ, der das erstmal auch so annimmt und sich entsprechend großkotzig verhält. Bis er selbst merkt, er ist überfordert, denn er ist nicht das hochbegabte Kind, das Genie, wie es die Eltern von ihm erwarten.

GRIPS        Samira lebt nun in einer vierten möglichen Familien-Form, nämlich in so einer Art WG oder Kommune …

VL              Samira ist geschädigt, weil sie – das habe ich schon öfters in meinem Umfeld erlebt – darunter leidet, dass ihre Mutter quasi nie da ist. Das Fehlen soll ersetzt werden durch eine wunderbare Fabriketagen-WG, was aber nicht funktioniert. Samira leidet darunter sehr, im Grunde hasst sie „Schnubbel“ sogar dafür, dass er eine ganz offenbar gute, funktionierende und sich kümmernde Mutter hat.

GRIPS:       Musik wird eine große Rolle in SCHNUBBEL spielen, was nicht neu ist, deine Stücke sind immer mit viel Musik – nur spielt jetzt auch die Musik eine sehr wichtige inhaltliche Rolle – wie bist du auf diese Idee gekommen?

VL              Der „Schnubbel“ liebt die Musik, doch kann er selbst kein Instrument lernen, weil die Mutter weder die Zeit hat, sich darum zu kümmern, noch als Hartz-IV-Empfängerin das Geld dazu hat. Der Mutter ist auch die Bedeutung, die Musik für ihn hat, gar nicht so bewusst. Seine Liebe zur Musik führt „Schnubbel“ zu dem merkwürdigen Späti-Besitzer, der früher mal DJ war, und diese Begabung in ihm sofort merkt und zum Reimen, Singen und Rappen anstachelt. „Schnubbel“ ist das gar nicht klar, dass er damit vielleicht auch seine Probleme gelöst bekommen könnte, es lenkt ihn erstmal ab und macht ihn glücklich. Es dauert eine ganze Weile, bis er seine Begabung so zeigen kann, dass auch die anderen damit Spaß haben.

GRIPS:       Die Grundschulzeit deines Sohnes ist jetzt acht Jahre her, seitdem gab es eine große Kita- und Grundschulreform – was fiel dir bei deinem jetzigen Besuch auf?

VL              Naja, das einschneidende Neue sind ja wirklich diese JüL-Klassen, was sehr gut funktioniert, wenn die Lehrer entsprechend darauf eingestellt sind und damit umgehen können. Und wenn dann auch ab und zu Sozialarbeiter mit in die Klasse kommen die mithelfen können. Die Idee, dass 5- bis 8-Jährige gemeinsam lernen, ist ja im Grundsatz gut, nur ist die Idee damals wohl zu plötzlich und mit zu wenig Vorbereitung eingeführt worden. Ich habe das als sehr gut funktionierend erlebt. Ebenso auch die Idee mit dem Klassenrat, wo Kinder zusammen sitzen und über ihre Befindlichkeit und die der anderen reden können. Wenn das gut funktioniert, ist, glaube ich, Mobbing in solchen Klassen gar nicht richtig möglich, weil irgendein Kind das natürlich sieht und darüber redet. Und es Kindern damit auch viel leichter gemacht wird, selbst über ihre Erfarhungen zu reden.

GRIPS:       Du schreibst seit 44 Jahren Kinderstücke und stellst dich auf die Seite der Kinder – und hast mit Sicherheit auch mit deinen Stücken viel zu einer gesellschaftlichen Entwicklung beigetragen: Körperliche Gewalt wurde unter Strafe gestellt, das Bewusstsein für Kinder ist ein ganz anderes als noch in den 70er Jahren. Wofür kämpfst du heutzutage für die Kinder? Was fehlt ihnen deiner Meinung nach? Oder anders gefragt: Was wünschst du dir?

VL              Ja, Kinder werden nicht mehr wie damals in den 70ern unterdrückt. Das war damals wirklich eine unterdrückte Klasse und die mussten sich immer hinten anstellen, im Laden wurden sie als Letzte bedient, denen ging es wirklich in einem Maße dreckig, wie man es sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen kann. Deswegen kann man von heute aus manche Sachen und Situationen unserer frühen Stücke gar nicht mehr verstehen. Heute sind das eher psychische Verwahrlosungsprobleme, auch soziale Probleme. Und Kinder haben jetzt oft auch schon im frühen Kindesalter die Angst, nicht mehr mitzukommen. Kinder fangen schon bei JüL an, Angst zu kriegen, was aus ihnen später mal wird. Das finde ich unglaublich.

GRIPS        Was wäre dein Wunsch an die Politik?

VL              Sich gefälligst intensiv um die Kinder und die Bedingungen in den Schulen zu kümmern. Wenn ich jetzt höre, dass eine Reihe von Sozialarbeiterinnen abgezogen werden sollen, das finde ich so pervers, so unerhört, ich habe das gar nicht glauben können! Es ist so toll, dass endlich Sozialpädagogen für Schulen eingeführt wurden, beispielsweise in Brennpunktschulen  und die braucht man, die sind unglaublich wichtig, manche sind da Elternersatz, das ist lebenswichtig! Und wenn dann die wenigen Stunden auch noch wegfallen, ist das in diesen großen JüL-Klassen für die Lehrer nicht mehr zu schaffen. Und die Kinder sind ja den ganzen Tag da! In anderen Ländern ist das selbstverständlich, dass da genügend Sozialarbeiter in den Klassen sind und den Lehrer helfen. Und dass die Sozialarbeiter auch ordentlich bezahlt werden, hier kriegen sie ja kaum mehr als eine Kassiererin im Supermarkt! Also, wenn die Grundschulreform wirklich gut funktionieren soll, dann muss die Politik diese auch personell richtig aufstellen – und man darf nicht ausgerechnet hier mit Sparen anfangen!

GRIPS        Ich habe erst vor kurzem mir nochmal PÜNKTCHEN TRIFFT ANTON angesehen, 400 gebannte Kinder, die beim Schlussapplaus regelrecht vor Begeisterung explodieren. Wie schaffst du es, auch noch nach über 44 Jahren, 400 Kinder mit den Mitteln des Theaters so zu begeistern?

VL              Das Entscheidende ist eben, dass die Schauspieler die Herzen von Kindern erreichen. Maria Perlick, die jetzt neu das „Pünktchen“ übernommen hat, spielt so mit dem Herzen, das überträgt sich. Wenn da nichts aus ihrem eigenen Herzen käme, wäre auch nicht so eine Begeisterung. Das ist das Wichtigste überhaupt, Theater lebt für mich von der Empathie, vom Wiedererkennen der Kinder, dass sie sich identifizieren können und sich wiedererkennen mit ihren Problemen. Davon haben sie was fürs Leben. Davon gehe ich grundsätzlich immer aus, das ist mein Hauptantrieb.

Die Fragen stellte Anja Kraus (Öffentlichkeitsarbeit | Presse und SocialMedia)