„Männlichkeitsanforderungen sind nichts Statisches“

Interview mit „dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.“ im Rahmen von „Upload Virgin“

Das Ensemble von „Upload Virgin“ hat sich bei der Erarbeitung des Stücks u.a. vom Verein „Dissens“ fachlich beraten lassen. Seit 1989 arbeitet der Verein zu Geschlechterverhältnissen und entwickelt Forschungs- und Bildungsprojekte auf lokaler, Landes-, Bundes- und europäischer Ebenefü. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt u.a. auf kritischer Jungen*-, Männer*- und Männlichkeitsforschung, auf Geschlechterforschung und auf geschlechterreflektierter Jungen*arbeit.
Unsere Theaterpädagogik hat mit Sarah Klemm und Till Dahlmüller von „Dissens“ für das Materialheft* zum Stück ein Interview geführt, wir stellen einige Aspekte daraus vor:

GRIPS: In eurer Arbeit verwendet ihr den Begriff »Männlichkeitsanforderungen«. Was bedeutet das genau?

Sarah Klemm: Wir verstehen Männlichkeit und Weiblichkeit als Bilder und Vorstellungen davon, wie Männer und Frauen angeblich sind oder sein sollen. Diese Bilder und Vorstellungen treten uns allen als Anforderungen entgegen. Männlichkeitsanforderungen sind die Erwartungen und Bilder, mit denen alle Menschen konfrontiert werden, die in unserer Gesellschaft als Jungen und Männer wahrgenommen werden, oder wahrgenommen werden möchten.
Männlichkeitsanforderungen sind nichts Statisches. Sie sind intersektional unterschiedlich und verändern sich im Laufe der Zeit.
Es gibt aber einige wichtige Männlichkeitsanforderungen, die in den meisten Milieus und Lebenswelten wirkmächtig sind. Dazu gehören Souveränität und Unabhängigkeit durch Kontrolle über sich – den eigenen Körper, das eigene Leben, die eigenen Emotionen – und über andere. Andere wichtige Männlichkeitsanforderungen sind beispielsweise Durchsetzungsfähigkeit, Sportlichkeit, Rationalität und als »männlich« geltende Interessen, wie Fußball. Aber auch Heterosexualität gehört dazu. 
In »Upload Virgin« geht es viel darum, wie Luc versucht, den Anforderungen zu entsprechen, die seine Freunde an ihn herantragen. Dazu gehört die Erwartung, dass er mit Pauline Sex hat, dass er in der Beziehung mit ihr hand- lungsfähig ist und die Kontrolle hat. Dabei geht es nicht darum, was für ihn, für Pauline und ihre Beziehung gut wäre. Es geht um die Anerkennung als »richtiger« Junge durch seine Kumpels.
Das bedeutet nicht, dass alle Jungen und Männer so sind. Aber alle Jungen und Männer müssen sich irgendwie zu diesen Anforderungen verhalten: Sie können versuchen, ihnen zu entsprechen, sich ihnen zu widersetzen, sie für sich umzudeuten, etc. Zum Beispiel mögen natürlich nicht alle Jungen und Männer Fußball. Aber alle werden irgendwann mit dem Thema Fußball konfrontiert. Sie können Fußball auch explizit doof finden. Was sie nicht können, ist, sich einfach nie dazu zu verhalten.
Männlichkeitsanforderungen müssen zumindest teilweise erfüllt werden, um in unserer Gesellschaft als »richtiger« oder »normaler« Junge oder Mann anerkannt zu werden. Sie üben deswegen viel Druck aus. Eine zentrale Aufgabe geschlechterreflektierter Pädagogik ist es, von diesen Anforderungen zu entlasten und Räume zu schaffen, in denen der Druck, ein »richtiger« oder »normaler« Junge sein zu müssen, möglichst niedrig ist. Das gleiche gilt analog für Weiblichkeitsanforderungen.

GRIPS: Was bedeutet toxische Männlichkeit? Was wäre das Gegenteil? Welche anderen Begriffe verwendet ihr, um über Konzepte von Männlichkeit zu sprechen?

Till Dahlmüller: Mit toxischer Männlichkeit wurde – meistens im Zuge von #meToo – zum einen ein Männlichkeitsbild bezeichnet, das durch Mut, Stärke, Härte, Nicht-Verletzlichkeit, Dominanz geprägt ist. Zum anderen wurden daraus häufig resultierende Eigenschaften, Verhaltens- oder Beziehungsweisen von Männern als toxisch (wortwörtlich: giftig) benannt, wie u.a.: Grenzen zu überschreiten (eigene und die anderer Menschen), fehlende emotionale Kompetenzen, mangelnde Bindungsfähigkeit. 
Das Besondere war, dass mit dem Begriff (hauptsächlich von Frauen) hervorgehoben wurde, dass alle Geschlechter von den oben genannten negativen Eigenschaften betroffen sind. Ich denke, mit dem Begriff konnte vielen Männern verständlich gemacht werden, dass die feministische Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit (der eigenen) Männlichkeit auch ihnen mehr Lebensqualität bringen kann. Ich denke daher: als (politische und pädagogische) Strategie, um Männer für eine Männlichkeitskritik zu gewinnen, kann es sinnvoll sein, von »toxischer Männlichkeit« zu sprechen.
Gleichzeitig wird der Begriff mittlerweile inflationär verwendet und ich finde es gut, ein kritisches Auge darauf zu werfen, was damit in welchem Kontext genau gemeint ist. Ich nehme wahr, dass damit häufig die Erfahrungen von Männern (mit ihren »toxischen« Eigenschaften) gemeint und benannt werden – was im Begriff ja bereits von Anfang an angelegt war. Im schlechtesten Fall geraten dann die Erfahrungen von Frauen, Inter* und nicht binären Personen aus dem Blick. Und es wird verwischt, dass die Hauptleidtragenden von problematischem männlichem Verhalten und patriarchalen Strukturen Frauen*, Inter* und nicht-binäre Personen sind.
In letzter Zeit wird häufig – zum Beispiel in pädagogischen Konzepten und Debatten – der Begriff »fürsorgliche Männlichkeit/en« genutzt, womit eine Art alternativer, positiver Bezugspunkt für männliche Jugendliche und junge Männer geschaffen werden soll. Ich verstehe hier den strategischen Hintergrund.
Ich würde allerdings Männlichkeit als Konzept nicht »promoten«, denn ich wünsche mir eher die Auflösung von Geschlecht als (binärem) Identitätskonzept. Außerdem erfahre ich oft, dass sich wunderbar ohne ein solches (männliches) Identitätskonzept auskommen lässt: Ich arbeite pädagogisch mit Jungen*, ohne ein irgendwie fest umrissenes Bild von »Männlichkeit« oder einen Versuch, Männlichkeit neu zu definieren. Stattdessen fokussiere ich mich darauf, konkrete Handlungsweisen oder Charaktereigenschaften wie Fürsorglichkeit, Empathie und Perspektivwechsel zu fördern und Jungen* (und mich selbst immer wieder auch) zu sensibilisieren für eigene Privilegien und problematische Verhaltensweisen.

GRIPS: Welche (Schutz-) Räume zum Austausch über die individuelle Ausdeutung des eigenen Geschlechts gibt es bzw. braucht es?

Sarah Klemm: Ich denke, dass ganz unterschiedliche Orte und Menschen solche Frei- und Schutzräume bieten können: Freund*innenkreise und (Herkunfts- und Wahl-) Familien können solche Räume sein, aber auch Angebote der Mädchen- und Jungenarbeit, queere Jugendgruppen, Jugendzentren und andere Strukturen. In Schulen können das Vertrauenslehrkräfte sein, oder AGs, wie ich sie eben schon genannt habe.
Und natürlich können auch Soziale Medien solche Räume sein, wenn Jugendliche dort auf Menschen treffen, die ähnliche Erfahrungen machen und sich mit ähnlichen Themen beschäftigen. Bei aller berechtigten Kritik an den Risiken Sozialer Medien und dem Druck, der von ihnen ausgeht: Sie sind eben auch Orte der Vernetzung und des Empowerments.


*Das umfangreiche pädagogische Materialheft gibt es zur Premiere am 21. März 2024 zum kostenlosen Download auf der Website.


Das Fortbildungsangebot von DISSENS:
Das Angebot richtet sich an Multiplikator*innen, die selbst mit Kindern und Jugendlichen arbeiten oder solche Arbeit begleiten – sei es in Schule und Schulsozialarbeit, politischer Bildung, Jugendarbeit, Jugendhilfe, Frühpädagogik, Berufsbildung oder anderen Feldern. DISSENS arbeitet auch direkt mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen und ist offen für weitere Zielgruppen. Es gibt Materialien und Bildungsangebote u.a. zu geschlechterreflektierter Pädagogik, geschlechtlicher und sexueller Vielfalt, Prävention von sexualisierter Gewalt, Männlichkeit und Jungenarbeit, geschlechterreflektierte Rechtsextremismusprävention undAntifeminismus.

Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.
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